Ich kann kein Gender – Gender kann mich mal

Ich kann kein Gender – Gender kann mich mal

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Luci­en Lafayette

4. Juni 2022

Luci­en, Agen­der und Autor von AgenderAgenda

Sehr geehrte Damen und Herren, Intersexuelle, Transsexuelle, Transgender, Cisgender, Agender und alle nicht-binären Leser'innen und Lesenden*

..Mit die­ser far­ben­fro­hen Anre­de soll­ten sich nun alle Men­schen ange­spro­chen füh­len. Wie­so ich dann aber nicht ein­fach »Hal­lo, alle Men­schen« schrei­ben kann, ist die zen­tra­le Fra­ge die­ser Agen­da. Wei­te­re kniff­li­ge Fra­gen sind u. a.: »Wat is Gen­der un wie mach ich dat?«, »Wie­so haben wir eigent­lich Gen­der?«, »Ist Eman­zi­pa­ti­on echt nur Ein­bahn­stra­ße oder spinnt mein Navi?«, »Geschlechts­an­pas­sung oder Gesell­schafts­wan­del?«, »Wie vie­le Geschlechts­iden­ti­tä­ten brau­chen wir eigent­lich noch für alle 7,6 Mrd. Indi­vi­du­en auf die­ser Welt?« und »Wol­len die dann alle ihre eige­ne Gen­der­toi­let­te?« oder »Wer zur Höl­le braucht über­haupt Gender?« 
Auf letz­te­re Fra­ge habe ich zum Glück auch noch kei­ne wirk­lich klu­ge Ant­wort gefun­den, lamen­tie­re und publi­zie­re aber trotz­dem dar­über, weil im tages­po­li­ti­schen Geschlech­ter­zir­kus nie­mand sit­zen, aber jeder die Mane­ge betre­ten soll­te. Um mich also kurz vor­zu­stel­len: Mein Name ist Luci­en und ich bin geschlechts­blind. Ich wur­de so gebo­ren. Das bedeu­tet, mein Gehirn ver­ar­bei­tet geschlechts­be­zo­ge­ne Infor­ma­tio­nen nur sehr begrenzt. Die fak­ti­schen Unter­schie­de zwi­schen männ­li­chen, weib­li­chen, trans- oder inter­se­xu­el­len Kör­pern neh­me ich natür­lich genau­so wahr wie jeder nor­ma­le Mensch. Aber mein Gehirn ist nicht fähig, die­se Wahr­neh­mung mit ande­ren Infor­ma­tio­nen, wie etwa Selbst­wahr­neh­mung, Selbst­wert­ge­fühl oder Rol­len­ver­hal­ten, sinn­voll zu verknüpfen. 
Um es an einem bana­len Bei­spiel zu ver­deut­li­chen: Män­ner haben immer die Hosen an, wäh­rend Röcke nur von Frau­en getra­gen wer­den. Tra­gen Frau­en eben­so Hosen, ist das Eman­zi­pa­ti­on. Tra­gen Män­ner Röcke, ist das Tra­ves­tie. Solch schein­bar ganz nor­ma­len Sach­ver­hal­te sind für mich nur sehr schwer bis gar nicht nach­voll­zieh­bar. Ich könn­te mir höchs­tens aner­zie­hen las­sen, dass man das halt so macht, ver­ges­se es aber auch wie­der und tra­ge Rock oder Hose je nach Wind und Wet­ter. Behan­del­bar ist das nicht, aber ich kann mehr als gut damit leben. Manch­mal glau­be ich sogar, dass in Wahr­heit nicht ich, son­dern alle ande­ren bekloppt sind. 
Die Gen­der­theo­rie defi­niert dies mit »Agen­der« als Per­son, die »(..) mit dem Kon­zept Geschlecht nichts anfan­gen kann«. ‑Ja, damit kann ich wirk­lich nicht viel anfan­gen, aber ich kann sehr gut damit auf­hö­ren. Ich kom­me auch nicht aus der Gen­der­theo­rie, son­dern aus der Gen­der­pra­xis. Ich lebe jeden Tag in einer Welt vol­ler Gen­der­the­men ohne sel­ber Gen­der zu haben. Ich bin einer der weni­gen Men­schen, die ein­fach nur Mensch sein wol­len ohne dabei Frau oder Mann sein zu müssen. 
Alles fing ein­mal damit an, dass ich mit Penis auf die­se Welt kam. Und auch wenn das, was ich zwi­schen den Bei­nen habe, mir per­sön­lich bis zu mei­ner Puber­tät ziem­lich egal war, so bestimm­te es doch vom ers­ten Tag an, wie mein Leben aus­zu­se­hen hat. Was ich zu den­ken, zu füh­len, zu lie­ben, zu wer­den, zu tun und zu las­sen habe. Aber ich war mehr und woll­te mehr als mein Gen­der mir gestat­te­te. Prin­zi­pi­ell fand ich es nicht schlecht, Mann zu sein, aber genug war mir das allein auch nicht. Ich woll­te auch das, was mein Geschlecht tra­di­tio­nell nicht durf­te. Also ver­ab­schie­de­te ich mich von mei­nem Gen­der, über­schritt die engen Gren­zen, die es mir auf­er­leg­te und begab mich auf ein unglaub­li­ches Aben­teu­er: Die auf­re­gen­de Suche nach der eige­nen Geschlechts­iden­ti­tät. Dabei habe ich von Herr bis Her­rin, von Herr­chen bis Heim­chen, von Macho bis Mut­ti, von Schlam­pe bis Schwuch­tel, von Dog­gy bis Domi­na, von Bitch bis Bad­boy und von Cis bis Sis­sy, jede Men­ge Gen­der und ihre Rol­len­bil­der gelebt, genos­sen und erlitten. 
Doch je mehr ich davon ken­nen­lern­te, des­to weni­ger Sinn mach­te das Kon­zept Geschlecht für mich. Ich erkann­te, dass ich nicht mein Geschlecht wech­seln muss, um etwas zu tun oder zu sein, was tra­di­tio­nell nur einem ande­ren Geschlecht vor­be­hal­ten ist, son­dern mich ledig­lich eman­zi­pie­ren muss. Ich merk­te, dass ich nicht die Qua­li­tä­ten eines Gen­ders auf­ge­ben muss­te, um die eines Ande­ren zu erhal­ten. Mir wur­de bewusst, wie dumm ich war zu glau­ben, es wäre tat­säch­lich eine gute Idee, die eine Gefäng­nis­zel­le gegen eine ande­re aus­zu­tau­schen und dar­in weni­ger ein­ge­sperrt zu sein. Wenn Gen­der mein Pro­blem war, konn­te Gen­der nicht die Lösung sein. Und vor allem: Ich erfuhr, wie groß und facet­ten­reich ich und mei­ne Welt sein konn­ten. Ich war nicht mehr nur der wei­ße Rit­ter, der die hol­de Prin­zes­sin vor dem bösen Dra­chen erret­te­te. Ich konn­te genau­so gut auch die Prin­zes­sin sein. Oder bei­des in einem. Oder gar nichts davon. Oder der böse Dra­che. Oder was auch immer. Egal, ohne Gen­der konn­te ich end­lich alles sein, was ich bin. So ver­ei­ne ich nun das Bes­te und das Schlimms­te aller Gen­der und ihrer Rol­len­bil­der in mir. 
So, das sind ich und mei­ne Gen­der­ge­schich­ten. Die Quint­essenz dar­aus: Ich kann kein Gen­der – Gen­der kann mich mal! Nach die­sem Kre­do lebe und blog­ge ich. Damit will ich nie­man­dem sagen wie er, sie oder xier zu leben hat, aber ich möch­te mein Leben und des­sen Erkennt­nis­se mit der Welt, in der ich sie fand, tei­len. Wenn es auch nur einem Men­schen hilft, sich von Gen­der­the­men ein biss­chen weni­ger ver­rückt machen zu las­sen, hat sich das Gan­ze schon gelohnt. 

4 thoughts on “Ich kann kein Gender – Gender kann mich mal

  1. Wenn ich höre Gen­der wäre nutz­los, muss ich wie­der­spre­chen. Unser Geschlecht defi­niert uns. Das las­se ich mir nicht nehmen

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